Die zukünftige Versorgung mit Grippeimpfstoffen darf nicht vom ärztlichen Sachverstand entkoppelt werden

Genau ein Jahrhundert nach der verheerenden Spanischen Grippe, die innerhalb weniger Monate in drei Erkrankungswellen ein Zwanzigstel der Weltbevölkerung dahinraffte, haben wir uns im Zusammenhang mit der Influenza neuen Herausforderungen zu stellen. Zum einen grassiert seit Jahresbeginn die heftigste Grippeepidemie seit 17 Jahren mit hohen Erkrankungszahlen, einer erheblichen Übersterblichkeit, einer influenzaassoziierten Zunahme der Herzinfarktrate um mehr als 25%, einem historisch hohen Krankenstand und damit einem noch zu bezifferndem hohen volkswirtschaftlichen Schaden. Das unter Ökonomisierungszwängen leidende Gesundheitswesen ist dabei mancherorts bis an die Belastungsgrenze gefordert. Die Aufnahmekapazitäten der Krankenhäuser einschließlich der Universitätskliniken, waren zeitweise erschöpft. Geplante Eingriffe mussten verschoben werden. Auch die ambulante Versorgung gestaltete sich äußerst problematisch.

Die übergroße Mehrzahl der Influenzainfektionen wird aktuell durch eine Influenza-B-Variante verursacht, die im kassenfinanzierten Dreifachimpfstoff nicht enthalten ist – ein Szenario, vor dem Impfexperten seit Jahren warnen. Quadrivalenter Grippeimpfstoff (QIV), der vor allen vier in Deutschland seit fast zwei Jahrzehnten kozirkulierenden Grippevirusvarianten schützt, steht seit 2013 zur Verfügung.

Der Gesetzgeber hat mit dem Arzneimittelversorgungsstärkungsgesetz AMVSG bereit im Mai 2017 mit der ausdrücklichen Intention, die in Deutschland unzureichenden und sinkenden Grippeimpfraten zu steigern und wiederholte Versorgungsengpässe zu verhindern, Rabattverträgen für Impfstoffe die gesetzliche Grundlage entzogen und damit uns Ärzten die Entscheidungshoheit für die alters- und risikogruppenadaptierte Impfstoffversorgung zurückgegeben. Indes haben die gesetzlichen Krankenkassen bundesweit unter Verweis auf noch laufende Verträge mit Impfstoffherstellern ein Regressszenario aufgebaut und eine flächendeckende Impfprävention mit QIV verhindert. Die bereits im November 2017 beschlossene und Anfang Januar 2018 veröffentlichte wissenschaftlich und ökonomisch basierte Empfehlung der STIKO, künftig nur noch QIV zu verwenden, hätte – wie vom RKI empfohlen – zeitnah zu einer Prävention mit den zu diesem Zeitpunkt verfügbaren QIV führen müssen. Nur einige wenige Kassen sind dieser Empfehlung gefolgt. Unverständlich und vielfach kritisiert ist die Haltung des G-BA, trotz der vorliegenden STIKO-Empfehlung und im Wissen um die hohe influenzaassoziierte Morbidität und Mortalität erst im April über die Aufnahme des QIV in die Liste der durch die GKV zu erstattenden Impfstoffe zu entscheiden. In der seit Mai 2017 rechtsgültigen Schutzimpfungsrichtlinie des G-BA ist die Influenzaimpfung mit einem Impfstoff in der durch die WHO empfohlenen Zusammensetzung vorgesehen, ohne dass auf die Anzahl der Komponenten überhaupt eingegangen wird. Es hätte eines Federstrichs bedurft, eine medizinisch, haftungsrechtlich und ethisch überfällige Entscheidung für eine situationsangepasste Grippeimpfprävention auch für gesetzlich Versicherte zeitnah zu fällen. In diesem Kontext tragen GKV wie G-BA eine Mitverantwortung für eine Vielzahl vermeidbarer Krankheitsfälle, Komplikationen und die wirtschaftlichen Verluste.

Zum anderen sind die gesetzlichen Krankenkassen unter Führung der AOK dabei, ein neues, potentiell versorgungsgefährdendes Modell der Grippeimpfstoffversorgung so zu etablieren, dass die patientenindividuelle Entscheidung für einen Grippeimpfstoff vom ärztlichen Sachverstand entkoppelt wird.

Einem Modell aus Berlin, Brandenburg und Mecklenburg folgend, hat auch die AOK Sachen-Anhalt stellvertretend für alle Kassen mit dem Landesapothekerverband einen Festpreisvertrag abgeschlossen, der faktisch einem Generikaherstellers ohne Erfahrung in der Herstellung von QIV eine potentiell versorgungsgefährdende Monopolstellung einräumt. Die Entscheidung über die Auswahl der Impfstoffe wird künftig nicht mehr in ärztlicher Hand liegen. Im Zusammenhang mit dem niedrigen Festpreis von 9,20 € exkl. MwSt. müssen die Hersteller etablierter, ohne Altersbeschränkung anwendbarer QIV außen vor bleiben, werden ihre Produktionskapazitäten reduzieren und im nicht unwahrscheinlichen Fall von Lieferschwierigkeiten eines einzelnen Herstellers nicht in der Lage sein, eine Ersatzversorgung sicherzustellen. Der generisch zu verordnende Impfstoff wird für unter 18jährige nicht zugelassen sein; die Impfstoffversorgung von Kindern und Jugendlichen soll bürokratisch aufwendigen Regelungen bis hin zur namentlichen Verordnung auf Einzelrezepten folgen.

In der Gesetzesbegründung zum AMVSG heißt es: „Die Herstellung von Impfstoffen ist komplex und geht daher mit Unwägbarkeiten einher, die auch Auswirkungen auf die Sicherheit und Sicherstellung der Versorgung haben und im Falle von exklusiven Rabattverträgen zu Unsicherheiten bei der Versorgung und zu zeitweiligen Lieferproblemen führen können.“ Um diese im Zusammenhang mit Rabattverträgen in erheblichen Umfang aufgetretenen Versorgungsengpässe zu vermeiden, „sollen künftig die Impfstoffe aller Hersteller für die Versorgung zur Verfügung stehen. Mit dem Inkrafttreten der Regelung entfällt die Grundlage für die exklusive Versorgung mit Impfstoffen.“ Der zuständigen Zulassungsbehörde – dem Paul-Ehrlich-Institut – zufolge sind Grippeimpfstoffe als Biosimiliars nicht substituierbar. In der Anlage VII der Arzneimittelrichtlinie des G-BA sind unter den substituierbaren Arzneimitteln Impfstoffe nicht aufgeführt. An der Anwendbarkeit des § 129 Abs. 5 SGB V, d.h. der Zulässigkeit der generischen Verordnung von Grippeimpfstoffen, müssen erhebliche Zweifel bestehen. Auch die Limitierung auf eine vertragliche fixierte Abnahmemenge, die durch den Arzt bis Mitte April 2018 festzulegen sein soll, birgt das Risiko von Versorgungsproblemen.

Gegen die potentiell versorgungsgefährdende Monopolisierung der Grippeimpfstoffversorgung ist aktuell eine Reihe von sozial- und kartellrechtlichen Klagen anhängig, die möglicherweise im Eilverfahren Rechtssicherheit herbeiführen werden. Neben kritischen Stellungnahmen von Fachgesellschaften, Berufsverbänden, ärztlichen Körperschaften, der Stiftung Patientenschutz und der Patientenvertreterin der Bundesregierung hat sich die gesundheitspolitische Sprecherin der CDU-Bundestagsfraktion, Karin Maan, verärgert über das Verhalten der Kassen geäußert und angekündigt, derartige rechtliche Schlupflöcher zu schließen oder aber Festpreise für Impfstoffe zukünftig gänzlich zu verbieten.

Im Interesse einer alters- und risikogruppenangepassten umfassenden Influenzaprävention der Bevölkerung muss die Entscheidung über den Impfstoffeinsatz unabhängig von Festpreisregelungen ausschließlich uns Ärzten zu überlassen sein. Die Politik, insbesondere das neubesetzte BMG ist gefordert, die Einhaltung des AMVSG umzusetzen, potentiell versorgungsgefährdende Verträge bundesweit zu stornieren zu lassen und damit den Präventionsbestrebungen des Gesetzgebers zuwiderlaufenden Vertragswerken klar und zeitnah Einhalt zu gebieten.